Shin Gi Tai

Shin Gi Tai ist das japanische Konzept von Geist, Technik und Körper

Im Budo sollte es das Ziel sein, Geist, Technik und Körper (Shin Gi Tai) in eine ausgeglichene Einheit zu bringen, wobei Shin, Gi und Tai jeweils die gleiche Wertigkeit für den Budoka haben sollen.

So ist Karate nicht bloß eine Kampfkunst (Jutsu), sondern auch ein kontinuierlicher und persönlichkeitsbildender Weg (Dō).

Shin, Gi und Tai symbolisch in Balance

Der vollkommene Karateka hat mit dem Konzept Shin Gi Tai zum Ziel, alle drei Ebenen in harmonische Balance zu bringen. Was immer der Karateka tut wird sich in seinem Geist, seinem Körper und seiner Technik ausdrücken und offenbaren. Es lässt sich in der Ausführung des Karate somit beobachten, ob Geist, Technik und Körper gut aufeinander abgestimmt sind.

Unserem Dojo wurde von Sensei Adolphe William Schneider die Bezeichnung Shin Gi Tai Dōjō gegeben, was soviel bedeutet wie: „Ort, an dem Technik Körper und Geist fortdauernd geübt werden!“

Welche Eigenschaften können Shin, Gi und Tai zugeordnet werden?

SHIN kann mit den Worten Geist, Seele, Herz oder Sinn übersetzt werden. Eigenschaften von SHIN sind: Motivation, Geisteskraft, Entschlossenheit, Konzentration, Vorstellungsvermögen, Geduld, Demut, etc.

GI bedeutet Technik. Eigenschaften von GI sind: Stellungen, Blöcke, Tritte, Schläge, Fauststöße, Griffe, Würfe, Sprünge, Körperbewegungen, Atemtechniken, Energietechniken, etc.

TAI kann mit den Begriffen Körper, Konstitution oder Kondition interpretiert werden. Eigenschaften von TAI sind: Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Beweglichkeit, Wendigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit, Dehnbarkeit, Geschmeidigkeit, Anpassungsfähigkeit, etc.

Wie kann nun ein Konzept zur Verbesserung der Balance von Shin Gi Tai aussehen und für Karate-Dō umgesetzt werden?
Shin, Gi und Tai symbolisch außer Balance

Das Konzept von Shin Gi Tai kann für das Karate-Training als Werkzeug herangezogen werden. Es soll den Karateka in seiner Entwicklung von Geist, Technik und Körper im Sinne des Karate-Dō unterstützen, um so ein „vollständiger“ Kampfkünstler zu werden.

Die Methodik ist, mit Hilfe von den beobachtbaren Eigenschaften die Ausprägung von Shin Gi Tai beim einzelnen Karateka zu evaluieren. So kann das Konzept zur Analyse der drei Ebenen dienen und mit dem Ergebnis die weitere Entwicklung eines Karatekas angeleitet werden.

Wir können das Wissen von Shin Gi Tai dazu nutzen, um an das Ziel heranzukommen!

Es wird die momentane Ausprägung von Shin Gi Tai bei einem Karateka ermittelt, um festzustellen, worauf sich dieser in seinem Training konzentrieren soll. Das erklärte Ziel ist es die Balance der drei Ebenen zu optimieren, wobei das Ziel davon abhängen kann ob es sich beim Karateka um einen Praktizierenden, einen Athleten oder einen Ausbilder handelt:

  • Ein Praktizierender möchte sich z.B. weiterentwickeln um den Schwarzen Gürtel zu erreichen.
  • Ein Trainer will z.B. seine Schüler besser ausbilden können.
  • Ein Athlet hat z.B. das Ziel Wettkämpfe zu gewinnen.

Der perfekte Karateka hat diese Ebenen alle in Balance. Allerdings erreichen nur Wenige eine derartig perfekte Balance.

Wie wird das Konzept von Shin Gi Tai praktisch angewandt?

Mit Selbstreflexion und Selbstwahrnehmung kann der Karateka sich einschätzen. Dazu sind folgende Fragestellungen zu beantworten:

  • Welche der drei Ebenen (Geist, Körper, Technik) ist deine Stärkste?
  • Welche der drei Ebenen ist deine Schwächste?

Es ist also anfänglich wichtig zu wissen, welche der Säulen am stärksten ausgeprägt ist. In Bereichen, in denen der Karateka bereits sehr gut ist, braucht er nicht noch härter zu trainieren. Hingegen soll allerdings das stärker trainiert werden, worin die Schwächen liegen. So kann man sich schrittweise einer Balance der drei Säulen annähern. Es kann vielfach beobachtet werden, dass Schwächen gerne gemieden und nicht ausreichend trainiert werden.

Wenn jemand gut in TAI (Körper) ist, dann ist dieser möglicherweise schlecht in GI (Technik).

Dann sollte sich der Karateka weniger auf das Physische (Körper), als auf das Technische konzentrieren. Menschen, die diese physische Neigung haben, ignorieren üblicherweise technische Details. Sie verschleiern das indem sie stattdessen Dinge schneller und härter ausführen und verstärken so weiter ihre physischen Eigenschaften.

Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die bspw. sehr gut im technischen Bereich sind und kompensieren damit möglicherweise, dass sie nicht gut im physischen Bereich sind.

Anstatt sich körperlich stärker anzustrengen, konzentrieren sich diese in winzigen technischen Details, auch wenn dies nicht wirklich wichtig ist. Natürlich ist es bis zu einem gewissen Punkt wichtig, technisch gut zu sein. Wenn aber die körperliche Seite nicht integriert wird, kann die Balance nicht gefunden werden.

Gleiches gilt auch für SHIN (mentale Fähigkeit).

Wie kannst Du das Konzept selbst anwenden?

Reflektiere Deine Stärken und Schwächen und schreibe diese in der Reihenfolge auf, wobei die stärkste Ebene an Stelle 1) notiert wird:

  1. ____________________________________
  2. ____________________________________
  3. ____________________________________

Danach bitte einen guten Freund, einen Dojo-Kollegen oder Deinen Sensei, ebenfalls eine Reihenfolge für Dich aufzuschreiben. Vielleicht schreiben sie dasselbe wie Du, vielleicht haben sie aber auch einen anderen Eindruck. Das ist von Bedeutung, weil wir manchmal ein Bild von uns selbst haben, eine Realität, die nicht wirklich mit dem übereinstimmt, was die Menschen um uns herum über uns wahrnehmen.

Wenn Dein Kollege oder Sensei auflistet, dass Deine Technik besser ist als Dein Mindset und vielleicht Deine körperliche Leistungsfähigkeit schlechter als Deine Technik, dann kommst Du zu dem Resultat, was du mehr üben solltest. Damit kannst du Dein Training anpassen und optimieren, anstatt Dinge zu üben, von denen Du glaubst sie mehr üben zu müssen.

Das ist sehr wichtig, denn …
  1. als Praktizierende / Schüler wissen wir nicht immer wirklich, was für uns am Wichtigsten zu üben ist.
  2. als Trainer / Ausbilder kann das SHIN GI TAI Konzept zur Weiterentwicklung der Schüler angewandt werden. Als Karate-Lehrer unterrichten und beurteilen wir Menschen in der Regel so, als seien sie wie wir. Mache also die Grafik für die Schüler und lasse sie auch sich selbst in ihren Stärken und Schwächen einschätzen. Nach einem Vergleich kann herausgearbeitet werden worauf sich die Schüler konzentrieren sollen.
  3. als Athlet im Sportkumite kann das SHIN GI TAI Konzept für die Einschätzung des Gegners verwenden werden. Durch Beobachtung des Gegners kann herausgearbeitet werden wo dieser seine Stärken hat. Damit kann die Strategie für den Wettkampf ausgearbeitet werden. Denn natürlich bekämpft man Feuer nicht mit Feuer! Ist der Gegner ein großartiger Techniker wird man diesem nicht mit Technik begegnen. Stattdessen ist es besser, wenn sich der Athlet auf dessen Schwächen konzentriert. Vielleicht besteht in diesem Beispiel beim Gegner die mentale Stärke und es kann der Kampf durch psychologische Taktik gewonnen werden. [Es sei angemerkt, dass es in der Stilrichtung Shotokai keinen Wettkampf gibt!]

Es ist nicht wichtig, dass eine der SHIN GI TAI Säulen besonders hoch ist, sondern dass diese möglichst ausgeglichen sind.

So kann ein Schüler beispielsweise eine SHIN GI TAI Struktur auf einem niedrigen Niveau, jedoch im Gleichgewicht haben. Dies ist ein besserer Karate-Praktizierender als jemand, der gleichzeitig eine sehr hohe Säule und eine sehr niedrige Säule aufweist.

Wenn sich die Ebenen in Balance finden, können diese dann schrittweise gemeinsam weiter verbessert werden. Die Bemühung sollte darin bestehen, die starken Fähigkeiten nicht noch zu verstärken, sondern die Schwachstellen besonders zu verbessern.

Text: Andreas Posch
Grafiken: Robert Birnstingl